Die Geschichte der Kraft

Fara kuschelte sich noch ein wenig enger an ihre Mutter. Draußen war es ungewöhnlich kalt dieser Tage, das Feuer in der kleinen, zugigen Hütte tauchte den Raum zwar in ein goldenes Licht, aber die Wärme erreichte Mutter Amra und ihre kleine Tochter nicht wirklich. An Abenden wie diesem war es einfach eine Sache der Vernunft sich gegenseitig Wärme zu geben.


Außerdem bot sich dabei die Gelegenheit mal wieder ausgiebig zu kuscheln und Geschichten zu erzählen. Und das, fand Fara, war fast noch besser als auf dem Rücken von Twinkle, ihrem heißgeliebten Pony, im gestreckten Galopp durch die Wälder zu fegen. Gerade jetzt wo Papa mit den Schafen beschäftigt war, draußen auf den Weiden. Er hatte die drei Söhne mitgenommen und würde erst morgen gegen Abend wiederkommen. Sie hatten das Haus für sich allein, konnten tun und lassen, was sie wollten. So wie jetzt in ein flauschiges Bärenfell eingemummelt am Feuer liegen und einfach nur die Gedanken fließen lassen, wie Mutter es nannte.


Und es tat so gut den kräftigen und beruhigenden Herzschlag der Mutter zu spüren, ihre Stimme mehr zu fühlen als zu hören, wenn man so aneinandergekuschelt dalag. Amra hatte sich einen Becher von Vaters Selbstgebranntem stibitzt, hatte schon ganz rote Bäckchen und glitzernde Augen, die das züngeln des Feuers wiederspiegelten. "Mami?", frage Fara, "Mami, erzählst du mir noch mal die Geschichte von Wawu, dem wunderlichen Waldwupf?" Ihre Stimme war honigsüß. Wie die Stimme eines jeden Kindes, wenn es etwas bestimmtes ganz doll haben will. "Schon wieder? Du kennst sie doch schon auswendig. Du solltest sie mir mal erzählen!" - "Ach, Mami. Es macht sooooooo viel Spaß dir dabei zuzuhören. Bitte. Noch ein Mal. Och bitte..."


Amra gab sich geschlagen. "Na gut, du alter Quälgeist!" Sie lachte und wuschelte Faras pechschwarze Locken gehörig durcheinander nachdem sie sich aus dem Fell geschält hatte. Sie stand auf und überlegte bei sich, wann ihre eigenen Augen das letzte Mal so voll reiner, unschuldiger Freude gewesen waren. Seufzend wünschte sie sich zurück in diese gute alte Zeit und nahm sich noch einen Schluck Rachenputzer um ihre Kehle zu befeuchten - so eine Geschichte strapaziert die Stimme ungemein. Und wenn der Mann schon mal aus dem Haus ist, muss man die Gelegenheit nutzen. Außerdem tat das Gebräu ihr gut, es brachte sie dazu den Alltag und die Sorgen um die Familie für eine Weile zu vergessen. Es tat ihr gut und sie genoss es in vollen Zügen denen stets ein kleines Erschauern folgte, wenn der Alkohol in ihrem Magen ankam.


Sie überlegte, wo sie mit dem Erzählen beginnen sollte und wanderte dabei durch das Zimmer. Schließlich reichte schon Amras "Es war einmal ein kleiner Waldwupf..." um Fara in die wundervolle Märchenwelt voller Trolle, Magier und Drachen abtauchen zu lassen. Amra war eine vorzügliche Geschichtenerzählerin. Sie verstellte ihre Stimme je nach dem, von welcher Figur sie gerade berichtete, bewegte sich so, wie es die Personen in der Geschichte wohl tun würden.


Irgendwo zwischen Amra, Fara und dem Feuer entstand eine Blase aus Fantasie in der die Geschichte real wurde. Fara hörte mit offenem Mund gespannt zu - unwichtig, dass sie ohnehin schon wusste, was für Abenteuer Wawu bestehen musste und dass er sie auch bestand. Gebannt vom Schauspiel der Mutter sank sie hinein in die Sphären der Märchenwesen und Zauberdinge.


Nun, die beiden waren also abgelenkt. Und draußen tobten die ersten, viel zu frühen Herbststürme. Vermutlich lag es an beidem, dass sie es nicht hörten, als draußen ein Trupp Berittener ankam und in Richtung Hütte ging. Amra war gerade eine Elfe und ließ ihre Haare in einer tanzenden Kreisbahn fliegen, als die Tür mit einem lauten Knall aufflog. Der hereinbrechende Wind löschte alle Kerzen und hätte beinahe gegen das tapfer aufflackernde Feuer gewonnen, wären da nicht die Männer gewesen die nun den Luftstrom unterbrachen weil sie in die Hütte stürmten. Wie eine kalte Woge stinkenden Übels schwappten sie in den Raum. Es waren fremde, martialisch aussehende Riesenkerle in besudelten Uniformen, oder dem was davon übrig war, ungewaschen schon seit wirklich viel zu langer Zeit. Sie überblickten kurz die Lage und nahmen sich dann alles, was die armselige Bauernbleibe zu bieten hatte: Das Feuer, den Alkohol, die Frau, das Bett und die Rehkeule unterm Dach.


Amra wehrte sich verzweifelt mit Händen, Füßen, Zähnen und allem, was ihr in die Quere kam. Binnen kurzer Augenblicke war der aussichtslose Kampf vorüber, Amra lag bewusstlos geprügelt auf dem Bett, gerade wurde sie an den Zweiten weitergereicht. Fara lag neben dem Bett, wo die Männer sie hingeworfen hatten als sie aufgehört hatte zu schreien. Sue hörte die Geräusche der Gewalt, roch Blut und den ekelhaften Gestank der Männer, schmeckte bitter ihre eigenen Tränen.


Stunden später, als die Soldaten schliefen, über den ganzen Raum verteilt und in den unmöglichsten Verrenkungen, lag Fara noch immer zitternd da, die Augen weit aufgerissen, in Schweiß gebadet. Da hörte sie in ihrem Innern eine Stimme: "Wehre dich! Lass sie nicht ungeschoren davon kommen! Stell dir vor, wie du sie bestrafen kannst, und dann tu es! TU ES!!! Vertrau deiner Kraft. Sie sind böse und das Böse darf nicht siegen!" Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was die Stimme von ihr wollte, und dann noch eine weitere Weile, bis sie sich traute ganz leise und vorsichtig aufzustehen. Sie stellte sich in die Mitte des Raumes, das Feuer warf zuckende Schatten übergroß an die Wände. Fara breitete ihre Arme aus, die ausgestreckten, leeren Handflächen mit dem Blick gen Himmel gerichtet. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie eine große Sense die Soldaten niedermetzelte, wie ihre Augen aus den Höhlen quollen, sah Eingeweide und Blut aus ihnen herausbrechen. Köpfe wurden abgeschlagen, Arme und Beine, Zungen und Hautfetzen ausgerissen. Es war eine Orgie unvorstellbaren Hasses. Niemand würde diese Leichen je wiedererkennen, oder auch nur die Anzahl der toten Körper herausfinden.


Fara öffnete die Augen und überlegte, wie sie es anstellen sollte zu tun, was sie eben sah. Um sich zu vergewissern, dass die Soldaten immer noch schliefen wandte sie den Blick von der Decke. Es war Ruhig. Kein Rülpsen und Furzen mehr, kein Grunzen und Kratzen. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr rächen musste. Die leblosen Fleischstücke um sie herum hatten nichts mehr mit den brutalen Bestien zu tun, aus denen sie herausgeschnitten worden waren. Erleichtert sank sie auf den blutüberströmten Boden und schlief tief und traumlos bis der Vater sie am nächsten Tag fand.


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