Traumwelten

Seine Stimme drang an ihr Ohr – aus weiter ferne erkannte sie ihn. „Kate!“ rief er. Immer wieder, lauter, dringender. „Ich bin ja hier! Mach doch nicht so einen Lärm...“ wollte sie sagen. Schon seit dem ersten Tag seiner Rufe an. Sie gab sich alle Mühe, sandte Befehle vom Hirn zu den Muskeln, konzentrierte sich aufs äußerste. Aber sie konnte aus dem klebrigen, schleimigen Nebel nicht heraus, er hörte sie nicht. Sie konnte ihn auch nicht sehen. Nur manchmal dachte sie ihn verschwommen gesehen zu haben. Malcom. Sie vermisste ihn so sehr. Sein Lächeln und seine Berührung. Sie wollte ihn in die Arme nehmen und nie wieder loslassen. Nicht, dass sie diese Gefühle bewusst wahrnahm. Sie lebte in einem wabernden Strom von Gedankenfetzen, Traumwelten und gähnender Leere aus der sie zu Zeiten erwachte. Es war ihr einfach ein tiefes Bedürfnis, wie das zu atmen.


Sie konnte sich nicht erklären, was geschehen war, warum sie an diesem Ort gefangen war. Vielleicht wusste sie nicht einmal, dass sie gefangen war. Malcom hingegen wusste es sehr genau. Seit knapp drei Wochen saß er jeden Tag, Stunde um Stunde an ihrem Bett, hielt ihre Hand, rief sie, streichelte ihre Wange. Salzige Tränen fielen auf ihr Gesicht, rannen die fahlen Wangen herab, umflossen die einst so sinnliche Oberlippe. Es schien als sei kein Leben mehr in ihr, keine Regung, kein Gedanke. Die Ärzte nannten es „einen tiefen Schlaf“ aber für Malcom war es tot sein. Der Tod nicht als Ende aller Zustände, sondern als Endzustand. Sein Herz betete um Kate, verdrängte den Gedanken an ein Leben ohne sie. Seine Augen sahen die Schläuche, Kontakte, Kanylen und Sensoren nicht mehr. Das Geräusch des Respirators wurde durch das Rascheln einer ihrer Haarlocken auf dem Kopfkissen bereits überdeckt. Scharf wo sie benötigt wurden, stumpf wo sie nur Schmerz berichten können.


So wie Kate immer wieder in dunkles Nichts fiel, konnte auch Malcom dem Schlaf nicht wiederstehen. Wenn ihm dann die Augen entglitten sah er die Bilder in seinem Inneren. Die dunkle, nasse Straße, das Motorrad auf der Fahrbahn liegend und dann den Baum auf den sein Wagen zuraste. Er hörte das Krachen, das Knirschen der Muskeln im Körper neben ihm, das Blut auf Kates Gesicht. Dann sah er sie im Krankenwagen, von elektrischen Schlägen ins Leben zurückgetrieben, nun hier auf der Intensivstation. Die Ärzte zogen gerade einen Kontakt nach dem anderen, Gerät für Gerät wurde Kate abgeschaltet. Er schrie, sprang auf und wollte sie aufhalten. Dann wachte er mitten in Kates Zimmer stehend, schweißgebadet auf, die Fingernägel in die blutenden Handflächen gepresst. Jede Nacht. Dann hatte er wieder genug Angst vor dem Schlaf und konnte an ihrem Bett wachen. Gerade hatte er wieder so einen Traum, schreckte auf und rief etwas unverständliches, als sich im Bett neben ihm etwas regte. Er schaute hin, sah aber nichts. Einbildung. Er wusch sich mit einem kalten Lappen durchs Gesicht und setzte sich wieder neben sie. Als er ihre Hand nahm spürte er ein leises Zucken. War das jetzt mehr als ein Reflex? Malcom wollte sicher gehen und klingelte nach der Schwester.


Als sie kam überprüfte sie die Monitore, sah der bewusstlosen Patientin ins Gesicht. „Alles normal“ verkündete sie mit scharfer Klinge in Malcoms Hoffnung hinein. Sie ging und ließ die Liebenden allein zurück. Kate hatte von der Untersuchung nichts mitbekommen. Aber nun spürte sie etwas. Es war eine Woge von Schmerz, innerem Schmerz die ihr da entgegenschlug. Es war wie Walgesang im Ozean. Durch den seltsamen Nebel hindurch erkannte sie, wer da litt, dass er sie jetzt brauchte. Als sie das begriffen hatte zogen sich ihre Pupillen das Licht erwartend zusammen, bevor sie die Lider hob. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar sehen konnte. Die Ohren hatten den Kontakt zu ihr wieder aufgenommen, sie hörte jetzt wie er schluchzte, spürte schmerzhaft und Übelkeit erregend die Erschütterungen des Bettes mit jedem Schulterzucken. Sie hob den Kopf, die linke Schulter und dann ihre Hand, mit der sie ihm durchs Haar streichelte. Als er begriff schmiegte er seinen Kopf enger an sie, fasste ihre Hand und traute sich nicht aufzuwachen.


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