Nur Tiere sterben Nachts

Der Himmel begann die wolkenlose Helligkeit des Tages zu verlieren. Am Horizont schillerte er in rot, lila und rosa, spiegelte sich auf den Wogen des Ozeans. Der volle Sommernachtsmond stand leuchtend weiß bereit über die hereinbrechende Nacht zu wachen. Das Meer zog sich zur Ebbe zurück, als wolle es die abendliche Stille nicht durch brandende Wellen stören. Nur ein sanftes Rauschen lies die sanften Wogen erahnen, die wenige Schritte entfernt an den Strand rollten. Das Salz des Meeres verband sich mit dem betörenden Duft der Tropenwälder ringsum.


Das Haus lag schimmernd wie eine Perle da, an der Grenze zwischen Dschungel und Meer. Auf der Veranda wiegte sich eine Schaukel sacht in der Briese, ein Tisch war gedeckt, wie für ein romantisches Mahl zu zweit. Kerzen warfen geheimnisvolle Schatten an die Wände. Wein, Brot und die Vorspeise standen sorgfältig arrangiert bereit, die kunstvoll gefalteten Servietten- Schwäne trohnten auf den reinweißen Tellern. Von drinnen drang das ticken der Uhr auf dem Kaminsims heraus.


Mit grausamer Genauigkeit zeigte sie seine Verspätung an. Um halb acht wollte er da sein, jetzt war es gleich neun. Die dunkelhaarige Frau die auf der Schaukel gelegen hatte setzte sich auf und schwang die Beine herunter. Sie strich sich die langen schwarzen Locken aus der Stirn. Die komplizierte Steckfrisur hatte sich schon längst gelöst, nun war ihr Haar wirr und zerzaust vom Liegen. Sie stand auf und blies auf dem Weg ins Haus die Kerzen aus. In der Küche warf sie erst einen Blick auf das Abendessen, und fütterte dann den Mülleimer damit. Sie hatte keinen Appetit mehr, und der Kühlschrank war mal wieder defekt. In den Tropen hielt sich Lasagne nur so lange wie man Insekten, Hitze und Feuchtigkeit von ihr fernhalten konnte. Schon nach kurzer Zeit verwandelte sich alles in krabbelnden, übelriechenden Brei. Sollte er doch sehen, was er zu essen fand, wenn er schließlich irgendwann mitten in der Nacht auftauchte. Sie ging zum Telefon. Eifrig blinkte das rote Kontrolllämpchen des Anrufbeantworters, als könne er es nicht erwarten ihr zu berichten, dass niemand angerufen hatte. Sie nahm den Hörer auf, und lauschte dem Freizeichen. Es war da, was bedeutete, dass wenigstens dieses Gerät noch funktionierte. Hier draußen konnte jederzeit alles kaputt gehen; die drückende Feuchtigkeit in der Luft brachte elektrische Leitungen sehr leicht zur Kapitulation. Wie auch immer, das Telefon schien OK, die Hoffnung, dass er vielleicht einfach nicht durchgekommen war, um seine Verspätung anzukündigen, zerplatzte. Er hätte anrufen können. Sollte sie ihn anrufen? Vielleicht war es im Büro einfach etwas später geworden. Das musste der Grund sein. Sie klammerte sich an diese Möglichkeit, weil sie alle anderen nicht in betracht ziehen wollte.


Heute war ihr Hochzeitstag, der erste. Den konnte er doch auf keinen Fall vergessen! Sie ging ins Schlafzimmer, wo sein Geschenk bereitlag. Nicht das eigentliche Geschenk, nur Hinweise auf das, was er sich am meisten wünschte. Sie hatte überall Schnuller, Windeln, Rasseln und Strampler verteilt. Ein riesiger Storch aus Pappmache schwebte über dem Bett. Sie wusste genau, wie sehr er sich ein Baby wünschte. Lange hatten sie es vergeblich versucht, sich untersuchen lassen, sämtliche Fachleute des ganzen Landes aufgesucht - erfolglos. Körperlich war alles in bester Ordnung, sie hatten einfach kein Glück. Das einhellige Rezept der Ärzte: Liebe und Geduld, es würde irgendwann schon von alleine klappen. Heute morgen war sie bei ihrem Arzt gewesen, der sie nach der Untersuchung sichtlich erfreut angestrahlt und ihr sofort einen Mutterpass ausgestellt hatte. Überglücklich hatte sie gleich den Abend geplant, sich auf sein Gesicht gefreut, wenn er die große Neuigkeit erfuhr. Es sollte alles unvergesslich werden, ein wunderschöner Abend, der ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben sollte. Und nun war er nicht da. Einfach nicht da. Die Enttäuschung schnürte ihre Kehle zu, sie musste sich setzen.


Die Strasse lag wie eine im Mondlicht dunkel glänzende Schlange da, bahnte sich einen Weg durch den düster wirkenden Urwald. Ab und zu leuchteten ein Paar Augen in der Dunkelheit, es war geisterhaft Still, kein Windhauch regte sich, selbst die Tiere schienen zu schlafen. Ein fernes Geräusch lies eine Vogelmutter den Kopf aus den Federn heben. Nahte Gefahr für ihre Kleinen? Aufmerksam horchte sie in die düstere Welt. Das dröhnende Geräusch kam bedrohlich näher. In der Ferne zeichnete ein besonders hell gleißendes Augenpaar grelle Lichtbalken in die Nacht. Beruhigt senkte die Mutter den Kopf. Dieses Tier kannte sie, keine Gefahr drohte. Ab und zu rannten diese Wesen auf ihrem Pfad durch den Wald, niemals hielten sie inne, liefen immer vorbei. Als das Tier schon ganz nah war, vernahm sie ein neues Geräusch. Ein quietschen und zetern wie die Liebesgesänge mancher Männchen während der Balz. Das Tier taumelte und schwankte, schlingerte von einem Rand des Weges zum anderen. Die Vogelmutter blickte erneut auf. Hatte dieses laute Ding verdorbene Früchte gepickt?


Plötzlich konnte das Tier sich nicht mehr auf dem Weg halten und rannte mit fürchterlichem Getöse gegen den Baum, auf dem die Mutter ihr Nest gebaut hatte. Erschrocken flatterte sie auf, hörte die ängstlichen Rufe ihrer Kleinen. Das Nest fiel vom Baum, der durch den Aufprall heftig wankte. Sie flog bang umher, schließlich lies sie sich zum Fuß des Baumes herabgleiten, wo ihre toten Küken lagen, begraben unter dem zerstörten Nest. Das große Tier lag auf dem Rücken, die Augen flackerten noch ein paar Mal, dann war es auch tot, sein stinkender Atem erloschen. Die Mutter setzte sich auf den Waldboden, legte den Kopf schief und überlegte, was sie nun tun sollte. Sie war wütend auf das große fremde Tier, das ihre Kinder getötet hatte. Wäre es nicht schon tot gewesen, hätte sie ihm die Augen herausgehakt. Aber das Tier war nicht tot, es schrie jetzt, ein widerliches Geräusch schrillte durch die Nacht. Das war zu viel für die Vogelmutter, sie erhob sich erschrocken und verwirrt in die Lüfte und suchte die sichere Zuflucht des dunklen Urwalds. Sie kam nicht zurück. Nach einer Weile hörte das Geräusch so plötzlich auf, wie es begonnen hatte, im Dschungel wurde es wieder still. Irgendwo hörte man das traurige Lied eines Vogelweibchens, das ihrem Mann die traurige Nachricht überbrachte.


Sie legte auf. Zigmal hatte sie es jetzt versucht. Sein Handy war an, er hätte drangehen können. Im Büro lies sie es eine Ewigkeit lang schellen, ohne Ergebnis. Mittlerweile stellte sie sich vor, wie er in den Armen einer Anderen lag, vielleicht diese neue Sekretärin von der er so schwärmte. Ihre überreizte Fantasie zeigte ihr Bilder von ihm mit der langbeinigen Schönheit, auf dem Bett irgendeines Hotelzimmers in der Stadt. Energisch wies sie sich selbst zurecht: Bleib ruhig. Er liebt dich, das weißt du doch.
Aber wo zum Kuckuck war er bloß? Warum meldete er sich nicht? Sollte sie die Polizei einschalten? Vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Nein, wahrscheinlich war gar nichts passiert. Er wäre sicher wütend, wenn sie unnötig die Polizei rufen würde. Außerdem konnten die Beamten erst nach 24 Stunden etwas unternehmen, eine vermisste Person suchen. Aber er war nicht irgendeine vermisste Person, er war ihr Mann. Behutsam strich sie mit der Hand über ihren noch straffen Bauch. Bitte, lass ihm nichts zugestoßen sein. Das Baby braucht doch einen Vater. Wie soll ich hier draußen alleine ein Kind aufziehen? Wovon sollte sie es ernähren?


Irgendwann musste sie wohl eingeschlafen sein, denn sie wurde von einem drängenden Klopfen an der Tür geweckt, dass sich nun in ein Hämmern verwandelte. Sie erhob sich aus der unbequem verkrampften Schlafhaltung, brauchte einige Sekunden um sich zu orientieren. Dann wurde sie sich des Klopfens bewusst, stand hastig auf, strich sich notdürftig das zerknitterte Kleid glatt. Sie hatte sich gestern Abend nicht einmal ausgezogen oder abgeschminkt, war einfach irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Himmel, dachte sie, ich sehe bestimmt scheußlich aus. Dann wischte sie diese Gedanken beiseite und eilte zur Tür, die unter heftigen Schlägen bebte. Vielleicht war er das ja! Hatte er seine Schlüssel verloren? Mit einem Lächeln aus freudiger Erwartung öffnete sie die Tür. Vor ihr stand ein wildfremder Mann in Uniform. Oh mein Gott, dachte sie und befürchtete das schlimmste. "Guten Morgen! Gut, dass sie endlich aufmachen, ich rufe und klopfe schon eine Ewigkeit! Sind sie Mrs. Towers?" -"Ja, die bin ich. Was ist geschehen? Wo ist mein Mann?" In ihrem Kopf regte sich eine leise unheilvoll eindringliche Stimme. Er ist tot, sagte sie sich. Es ist wie im Film. Der Streifenpolizist überbringt der Ahnungslosen Witwe die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Oh, mein Gott. Das darf nicht sein! "Ich bin Officer Smithers von der Polizei Louiseville. Ich habe ihnen etwas mitzuteilen. Sollen wir nicht lieber hineingehen?" Die leise Stimme in ihrem Inneren war zu einem hysterischen Gekreische geworden. Er ist tot. Gott im Himmel, er ist tot. Ich bin allein. Sie sah sich selbst weinend an seinem Grab stehen, als trauernde Witwe mit schwarzem Schleier, wie sie einen Strauss Rosen auf den Sarg legte. Sie wollte aufschreien, dem Polizisten die Tür vor der Nase zuschlagen. Ich will das nicht hören. Es kann nicht sein. Es darf nicht sein. Gehen Sie doch weg, wollte sie dem Bullen zurufen. Aber sie konnte nur stumm Mund und Augen aufreißen. Kein Ton kam über ihre Lippen, ihre Beine blieben bewegungslos. Schließlich umhüllte sie ein gnädiger Schleier aus heilsamer Bewusstlosigkeit, sie fiel in schwarzen Nebel.


Der Polizist fing die zusammensinkende Frau auf, nahm sie auf die Arme, trug sie hinein, bettete sie auf der Couch. Von alldem bemerkte sie nichts. Erst der beißende Geruch des Riechsalzes, dass ihr unter die Nase gehalten wurde, brachte sie wieder zum erwachen. Ruckartig fuhr sie hoch, setzte sich kerzengerade auf, erinnerte sich an den Schrecken. Behutsam drückte der Polizist sie wieder in die Kissen "Ganz ruhig. Bleiben sie besser noch etwas liegen. Geht es wieder?" - "Ja, es geht schon. Was ist passiert? Was ist mit meinem Mann? Er ist tot, nicht wahr?" Sie wartete in machtloser Ergebenheit auf seine schreckliche Antwort. "Aber nicht doch! Er hatte lediglich einen kleinen Unfall. Mehr als eine Gehirnerschütterung und einige Schürfwunden und blaue Flecke hat er sich dabei nicht zugezogen. Er ist im Stadtkrankenhaus und erholt sich dort. Glauben sie mir, es geht ihm gut" - "Gott sei Dank! Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Was ist geschehen?" - "Ihr Mann ist ein Held, Mrs. Towers. Er hat gestern Abend auf dem Weg von Louisville hierher ein verunglücktes Auto gefunden. Es lag halb auf der Strasse, alle vier Räder in den Himmel gestreckt. Ihr Mann konnte glücklicherweise ausweichen. Er hat dann den verletzten Fahrer aus dem Wrack befreit. Dummerweise ist der Baum, gegen den der Unfallwagen gefahren ist, dabei umgestürzt. Er muss wohl vorher schon arg mitgenommen gewesen sein. Naja, auf jeden Fall ist ein Ast des Baumes gegen den Kopf ihres Mannes geprallt. Heute Morgen fand ein vorbeifahrender Bauer die beiden Ohnmächtigen und rief mit dem Handy ihres Mannes sofort den Notarzt. Sie sehen, es besteht gar kein Grund zur Sorge! Wir haben vergeblich versucht sie zu erreichen, aber seid heute morgen sind sämtliche Telefon- und Stromleitungen in dieser Gegend mal wieder defekt. Ihr Mann bat darum ihnen jemanden zu schicken. Ich hoffe, ich habe sie nicht allzu sehr erschreckt!"


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