Sinnlose Flucht

Es war ein kalter Morgen, am Fuße des Nanduru. Tessa öffnete die Augen, vom klappern des Frühstücksgeschirrs geweckt. Sie zwinkerte ein, zwei Mal in das helle Sonnenlicht bevor sie endgültig beschloss wirklich aufzustehen. Mit einem leisen „ratsch“ öffnete sich der Reißverschluss des Schlafsackes, Tessa brachte ihre Beine unter den Schwerpunkt und wankte in die Senkrechte. Huch. Sie wischte sich durch Gesicht und Haare, wartete darauf, dass sie wieder sicher auf den Beinen stand. Währenddessen lauschte sie auf Harry´s morgendlichen Gesang. Er trällerte einen Hit aus den 70ern. „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer, ein Sommer wie er früher einmal war...“. Sie hörte, wie er dabei grinste. Da die Nächte hier draußen verdammt kalt waren, brauchte sie sich nun nicht anzuziehen, die Shorts und das T-Shirt waren zwar zerknautscht, aber immer noch an Ort und Stelle. Sie nahm das Zelttuch am Eingang beiseite, schützte ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht. „Hey – guten Morgen du Schlafmütze!“ strahlte Harry ihr entgegen. Es war ihr immer ein Rätsel, wie er es schaffte zu derart unchristlichen Zeiten schon so vergnügt zu sein. „Morgen...“ murmelte sie. Sie ging zum Feuer, nahm sich eine Tasse Kaffee – zumindest sollte die braune Brühe Kaffee darstellen – und suchte nach der rettenden Sonnenbrille. „Du hast gestern ganz schön gekippt. Kein Wunder, dass du aussiehst wie eine Leiche. Wie eine nach vier Wochen wieder auferstandene Leiche um genau zu sein...“ Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen. „Vielen Dank auch, du bist charmant wie immer... Haben wir noch was zu rauchen? Irgendwie muss ich ja wach werden!“ – „Ich glaube es liegt noch was im Boot. In der kleinen, silbernen Pillendose. Aber sei sparsam, es ist das letzte Gras.“


Nach der morgendlichen Tüte ging es ihr schon wesentlich besser, wie eine schläfrige Katze lag sie satt und wohlig in der Sonne. Harry legte sich nachdem er abgewaschen hatte neben sie, seitlich, den Kopf in die aufgestützte Hand geneigt. „Hab ich dir eigentlich schon einmal gesagt, wie schön du bist? Wie das Leuchten in den Augen eines Kindes beim Kerzenauspusten.“ Er nahm eine Locke ihres goldblonden Haares zwischen Daumen und Zeigefinger, rieb sie, roch daran und küsste sie. „Harry. Du weißt, dass aus uns beiden nichts werden kann. Ich habe es dir schon oft genug gesagt. Ich liebe dich einfach nicht.“ – „Das liegt daran, dass du die Liebe nicht kennst. Du liebst mich, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht.“
Sie setzte sich auf, blickte hinauf zu den schneebedeckten Gipfeln weit oben und dachte an Gaitano. Sie wusste genau, was Liebe war. Liebe ist der Schmerz der dir sagt, dass du am Leben ist, das Flugzeug, dass dich über die Wolken trägt und der Fausthieb, der dich zu Boden schickt. Liebe. Sie war weit geflohen vor der Liebe, hierher ins Herz Afrikas, mehr als einen Kontinent und einen Ozean vom Grab Gaitanos entfernt war sie immer noch da. Liebe. Harry war ein lieber Kerl. Aber sie hatte sich geschworen nie wieder einem Mann den Raum in ihrem Herzen zu geben, der durch Gaitano zum Zentrum ihres Universums geworden war. Liebe. Ein Arzt der Antike sagte einmal etwas passendes über die Pest, dass sich wunderbar auf die Liebe übertragen lies: „Drei kleine Wörter vertreiben die Pest, Schnell, weit und spät, so man dich nur lässt. Schnell kannst du fort, soweit es nur geht, und wenn du zurückkommst, dann möglichst spät.“ Sie war hierher geflohen und nicht gewillt sich wieder einfangen zu lassen.


„Es ist schon spät. Wir sollten aufbrechen bevor es zu heiß wird.“ – „Ja, du hast recht. Mujima?“ rief Harry den schwarzen Boy, „Mujima, pass bitte gut auf das Camp auf. Wir werden heute Abend noch vor der Dunkelheit wieder hier sein. Und Finger weg von dem Whiskey – du weißt doch noch, wie es dir nach dem letzten Mal ging!“ Mujima lief unter seiner dunklen Haut kaum merklich rot an. „Ja, Sir. Ich werde gut auf alles aufpassen.“
Harry und Tessa machten sich mit leichtem Gepäck auf den Weg. Sie gingen bergauf, auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für die geplante Erstbesteigung des Nanduru. Neben dem Basislager, dass an der Stelle ihres Lagerplatzes der letzten Nacht angelegt werden sollte, würde etwa alle 1000 Höhenmeter ein Zwischencamp errichtet werden. Mit dem leichten Gepäck, das sie trugen, konnten sie diese Strecke leicht in der halben Zeit bewältigen und dann wieder zurückkehren. Trotzdem blieb es eine schweißtreibende Angelegenheit, und Harry freute sich über Tessas verschwitztes T-Shirt. Sie genossen die atemberaubende Landschaft, die wilde, unberührte Tier- und Pflanzenwelt um sie herum. Sie waren beide in etwa gleich groß, ihre Schritte daher beinahe synchron. Mal diskutierten sie angeregt, dann wanderten sie wieder schweigend nebeneinander her. Solange Harry nicht von seinen Gefühlen ihr gegenüber anfing, war alles in bester Ordnung.


Es war um die Mittagszeit, als sie eine ebene Terrasse erreichten, welche die stetige Steigung unterbrach. „Hier ist doch eine gute Stelle. Sie ist groß genug für drei Zelte, einen Feuerplatz, und“ Harry wies mit dem Arm nach Osten „da ist auch ein kleiner Bach. Wasser wäre also da. Wenn nicht hier, dann nirgends.“ – „Ja, du hast recht. Gib mir die Karte und das Höhenmessgerät, dann kann ich unsere Position bestimmen.“ Tessa setzte sich auf einen Stein. Plötzlich fuhr sie mit einem lauten „Au!“ wieder hoch. „Mich hat etwas gebissen. Shit. Das tut ja sau weh!“ Harry lief zu ihr, schaute sich den Stein und den Boden darum herum genauer an. „Scheiße. Das war eine Giftspinne! Er hob das rechte Bein und zerstampfte das Unglückstier mit seinem Stiefelabsatz. „Wo hat sie dich gebissen?“ - „In den Oberschenkel. Hier!“ Sie zeigte ihm die winzig kleinen Löcher in den Shorts. „Zieh die Hose runter. Das Gift darf nicht in der Wunde bleiben!“ Sie tat es während sie bereits mehr und die Kontrolle über das betroffene Bein verlor, ihr wurde schwindelig. „Harry, hilf mir. Oh mein Gott!” Harry schnitt derweil die Wunde auf, in Wildwestmanier saugte er das Gift, vermischt mit Blut, aus der Wunde und spuckte es sofort wieder aus. Er redete dabei ständig auf sie ein, versuchte die mittlerweile halb bewusstlose Tessa wach zu halten. „Harry, es tut so weh!“ Sie grub ihre Hände in sein Haar, verkrampfte sich darin. „Harry!“ Ein letzter leiser Aufschrei, bevor sie in dunkle Ohnmacht versank.


Harry schwitze, die trübe, salzige Flüssigkeit lief in strömen über seinen Körper, brannte in den Augen. Da aber beide Arme mit Tessa besetzt waren, konnte er sich nicht durchs Gesicht wischen, was dazu führte das er nur noch verschwommen sah und schließlich über eine Wurzel stolperte. Er fiel der Länge nach hin, schaffte es gerade noch sich ein wenig zu drehen damit er nicht mit seinem vollen Kampfgewicht auf Tessa donnerte. Er hatte sie schon den halben Weg zurück zum Camp getragen, jetzt wurden die Arme schwächer, die Beine zitterten vor Anstrengung. Es würde bald dunkel werden. Es war klar, dass sie es nicht mehr bis zum Fluss schaffen würden.
Also bettete er Tessa behutsam gegen einen Baumstumpf, schnallte die Rucksäcke ab und machte sich auf die Suche nach Feuerholz und einer Wasserstelle.
Er machte sich große Sorgen um seine kleine Tessa. Sie glühte vor Fieber, das gebissene Bein war auf die doppelte Größe angeschwollen. Er war kein Spezialist für Tiergifte. Aber ihm war klar, dass sie Hilfe brauchte, und das schnell. „Verdammt. Hätte das blöde Vieh nicht mich beißen können?“ Er machte sich Vorwürfe nicht gut genug auf sie aufgepasst zu haben, wusste aber im gleichen Moment, dass sie eine Erwachsene Frau war, die unter normalen Umständen gut auf sich selbst acht geben konnte. Er fand Wasser, tränkte sein Hemd darin und füllte die Trinkflaschen neu.
Dann ging er zurück zu ihr, wusch sie mit dem kühlenden Nass und baute dann eine Feuerstelle. Sicherheitshalber hatten sie Proviant für 2 Tage mitgenommen, was sich jetzt als Segen erwies.
Er kochte Kaffee und flößte ihn ihr Löffelweise ein. Harry hatte keine Ahnung, ob er nicht genau das Falsche tat, aber irgendetwas musste er tun, sonst wäre er wahnsinnig geworden. Tessa war immer noch im Fieberschlaf versunken, stöhnte leise und warf den Kopf mitsamt der verschwitzten Haare von einer Seite zur anderen.


Als Harry sie zum x-ten Mal gewaschen hatte, und nun einfach nicht mehr weiter wusste, nahm er ihre Hand in seine großen Männerpranken, drückte ihr einen Kuss auf die heiße Stirn und flüsterte ihr leise liebevolle Worte ins Ohr. Nun ja. Nicht alles, was er sagte war auch liebevoll- zwischendurch fluchte er auch und bedrängte sie aufzuwachen. Ohne Erfolg.
Irgendwann muss er dann eingeschlafen sein. Er wachte auf, als in der Nähe ein Löwe brüllte, kurz nach Sonnenaufgang am nächsten Morgen. Sofort schaute er nach ihr, nur um festzustellen, dass sie immer noch bewusstlos war. Er packte schnell ihre Sachen zusammen und machte sich dann wieder mit ihr auf seinen Armen auf den Weg.
Er war noch keine halbe Stunde unterwegs, als ihm Mujima entgegen kam. Der Boy hatte sich Sorgen gemacht und wollte sie Suchen. Gemeinsam brachten sie Tessa ins Camp, und von dort aus mitdem Boot ins Hospital nach Kausabi.


Die Ärzte gaben Tessa ein Gegengift, wuschen sie mit Alkohol und sagten alles weitere müsse sich zeigen. Harry wich nicht eine Sekunde von ihrer Seite, aß nicht, schlief nicht. Er war wie in Trance, konnte sich nicht vorstellen seine Tessa zu verlieren. Er sprach wieder mit ihr, flehte sie an, ihn nicht zu verlassen.
Es dauerte vier Tage, bis sie endlich die Augen aufschlug. Sie blickte auf den schlafenden Mann an ihrem Bett. Harry hatte sich letzten Endes nicht mehr gegen den übermächtigen Sandmann wehren können.
„Harry?“ sagte sie leise, mit rauer Stimme. „Harry?“ Er wachte auf und strahlte sie an. “Tessa! Du bist wach! Oh mein Gott, du hast es geschafft!“ Aus seinen tief eingesunkenen Augenhöhlen strahlte er sie an. Er stand auf, nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie. Als ihm auffiel, was er da getan hatte, errötete er. „Es tut mir leid. Ich bin nur so froh, dass du wieder da bist. Ich hatte gedacht ich würde dich verlieren.“ – „Harry?“ fragte sie. „Ja?“ – „Halt den Mund und küss mich!“


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