... Und Sekten sind doch für was gut

"Das Leben ist schon eigenartig", dachte Volker, während er aus dem verdreckten Zugfenster blickte. Da saß er nun, hunderte von Kilometern von seiner Heimat entfernt in einem Zug Richtung Süden. Außer einem leeren Herzen, seinem Pass und ein paar Klamotten zum wechseln hatte er nichts dabei. Nach dieser Sache mit Nadja war mit ihm nichts mehr anzufangen. Seine Freunde konnten ihm nicht helfen, er musste es alleine überstehen. Seinen Job machte er nur noch mechanisch, ohne dabei groß nachzudenken. Was für einen Werbetexter nicht eben karrierefördernd ist. Sein Chef hatte ihn kurzerhand zwangsbeurlaubt. "Volker, machen sie Urlaub. Sie müssen raus hier, zumindest für eine Weile. Wir alle hier haben Verständnis für ihre Lage. Sie haben einen schlimmen Verlust erlitten. Machen sie Pause, und kommen sie erst wieder, wenn sie wieder der Alte sind."


Nach dieser Ansprache hatte er einige Tage in der nun leeren Wohnung verbracht, diverse Flaschen Johnnie Walker begleiteten ihn durch ein Tal dunkler Depression. Gestern Morgen war er aufgewacht, hatte seine Siebensachen gepackt und war in den erstbesten Zug gestiegen. Der Zug fuhr nach München. Dort stieg er um, in einen Anderen nach Paris. Auf dem Bahnsteig hatte ihn ein finster aussehender Schwarzer angesprochen "Hey, du wollen Stoff? Erste Klasse Gras..." Volker brauchte nicht lange überredet zu werden. Er hatte einen Reisproviant von 10 Gramm gekauft, dann noch Blättchen und Tabak in einem der zahlreichen Bahnhofskiosks. Die nächsten Stunden verbrachte er in angenehm gelöster Stimmung, hörte Musik und beobachtete die übrigen Fahrgäste. Eine wilde Mischung aus Geschäftsreisenden mit Laptop und Handy, eine Schulklasse von Gymnasiasten (die begierig um eine Tüte baten) und die unvermeidlichen Omas mit Unmengen von Plastiktüten und geblümten Reisekostümchen in Vorkriegsqualität. Alles in allem waren die Stunden auf dem Weg nach Paris die ersten, die er ohne den ständig bohrenden Schmerz in seinem Innern verbrachte. (An der Grenze kam sogar mehr Leben in ihn, als er es sich gewünscht hätte, als Beamte des BGS den Wagon kontrollierten...) Schließlich war er ziemlich müde und ungelenk vom vielen Sitzen in der französischen Hauptstadt angekommen. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sich ein Hotelzimmer für die Nacht zu suchen, verwarf dieses Vorhaben aber gleich wieder. In wenigen Minuten fuhr ein Zug mit Schlafwagen nach Barcelona. Er löste ein Ticket, stieg ein, und wachte erst hinter der spanischen Grenze wieder auf. Es war bereits Mittag, als er einen Happen im Zugrestaurant zu sich nahm.


Jetzt war es gleich drei Uhr, und er hatte eben auf er Toilette einen weiteren Joint geraucht. Die spanische Landschaft flog an ihm vorüber, unaufhaltsam wurde er immer weiter fort getragen. Er las eine alte Ausgabe der Financial Times, das ein Fahrgast liegen gelassen hatte. Eine Werbeanzeige für Computer- Netzwerktechnik fiel im ins Auge. "Wir verbinden Menschen" prangte in 28 Punkt fetter Tahoma- Schrift über der Seite. Der Slogan war von ihm. Vor gut einem halben Jahr hatte er den Auftrag bearbeitet, kurz vor der Hochzeit. Damals sprudelte er nur so vor Kreativität, Wortwitz und Lebensmut. Es war die schönste Zeit seines Lebens. Beruflich gesehen hätte es gar nicht besser laufen können, er war der beste Texter in einer der führenden Werbeagenturen Deutschlands, wurde von allen Kollegen und Kunden geschätzt. Privat verlebte er die wenige Freizeit, die er hatte mit Nadja. Sie planten die Trauung, suchten Hochzeitskleid, Torte, Blumen, Cateringservice aus, verschickten Einladungen und freuten sich wie kleine Kinder auf die große Feier mit allen Freunden und Familienmitgliedern. Das Fest wurde ein Knaller, endlich sahen sie alte Freunde wieder, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Nur wenige Wochen später sah Volker sie alle wieder. Auf ihrer Beerdigung. Er stand wie betäubt an ihrem Grab, konnte nicht begreifen, dass sie nicht mehr da war. Tränen liefen seine Wangen hinab, er bemerkte es nicht einmal. Nachdem eine nichtendenwollende Menschenmenge ihm die Hand geschüttelt hatte, herzliches Beileid gemurmelt und ihm Hilfe angeboten hatte, fuhr er nach Hause. Sollten sie doch meckern, weil es keine Trauerfeier gab. Er wollte nichts mehr von der Welt wissen. Von der Welt, die ihm das einzige genommen hatte, was ihn am Leben erhielt. Irgendein besoffener Idiot war in Nadjas Auto hineingerast. Sie war auf der Stelle tot. Der Unfallverursacher hatte einen Airbag, kam mit ein paar leichten Blessuren davon. Der Anruf der Polizei hatte ihn aus seiner heilen Welt gerissen, seitdem war nichts mehr so wie vorher. Wo er auch hinkam, was er auch tat, alle erinnerte ihn an Nadja. Ihr Geruch hing noch in der Bettwäsche, ihre Zahnbürste stand verwaist im Becher. Wie ein Zombie machte er einfach weiter. Tat, als sei nichts gewesen. Aber der Schmerz war immer bei ihm, erinnerte ihn daran, dass nichts mehr wie früher war. Einen Riesenauftrag hatte er beinahe in den Sand gesetzt. Ohne die Hilfe seiner Kollegen war er zu nichts mehr fähig. Die vielen Hilfsbereiten Trauergäste waren verschwunden, er war allein. Er brachte es nicht übers Herz ihre Sachen fortzuräumen. So lebte er zwischen lauter Erinnerungen, wurde immer wieder an den Verlust erinnert.


Er legte die Zeitung beiseite, schloss die Augen und versuchte nicht an sie zu denken. Versuchte krampfhaft nicht an ihre duftenden Haare zu denken, nicht ihr perlendes Lachen zu hören, nicht ihre sanften Hände zu spüren. Vergeblich. Nadja war ein Teil von ihm. Nadja war tot, aber sie lebte in ihm weiter. Quälend blitzen Szenen aus der Vergangenheit vor seinem geistigen Auge auf, Erinnerungen aus schöneren Zeiten. Also machte er die Augen wieder auf. Er fühlte Zorn und Wut in sich aufsteigen. Wut über diese ungerechte Scheißwelt. Ärger auf Gott, falls es ihn gab. Wie konnte er es wagen seine Nadja sterben zu lassen? Zeit ihres Lebens hatte sie nie etwas böses getan, immer war sie heller Sonnenschein gewesen. Hass auf den Penner, der sie getötet hatte, Selbstvorwürfe weil er sie nicht beschützt hatte, nicht hatte retten können. Er ballte seine Fäuste, schlug sich selbst in ohnmächtiger Wut auf den Oberschenkel. Eine einsame Träne quoll aus den zusammengepressten Lidern, tropfte still auf sein Hemd.


Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er steckte das Gras in die Hosentasche und machte sich auf den Weg zum Klo. Auf dem Weg dorthin rempelte er einen älteren Mann an, der im Gang stand. In der Hand hielt er eine dieser Broschüren, in der Sekten ihre rettenden Wahrheiten unter ungläubigen Heiden verbreiteten. Lächelnd hielt der Typ Volker ein Exemplar hin. "Hier, mein Sohn. Du siehst aus, als könntest du Gottes beistand gebrauchen. Gott wird uns alle erretten, wenn wir nur Buße tun und an ihn glauben..." - "Nein danke. Ich rette mich selbst." Volker ging weiter, wollte eben die Tür des Waschraumes aufmachen, hielt die Klinke in der Hand haltend inne. "Ich rette mich selbst", dachte er. Langsam begann sie die Verkrampfung in seinem Innern zu lösen. Er war sich sicher. "Ich rette mich selbst"


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